Netphen/Olpe. Es war die Überraschung des Tages beim 43. CVJM-Silvesterlauf an der Obernautalsperre. Nur ein halbes Jahr nach einem beinahe tödlichen Rennradunfall stand der Olper Marco Giese (SG Wenden) wieder an der Startlinie. Der 30-Minuten-Läufer absolvierte die 10 Kilometer mit „angezogener Handbremse“ in 39:46 Minuten.
„The Winner Takes It All“, der Sieger bekommt alles, wusste schon die Popgruppe ABBA. Auch wenn die Schweden damit den tragischen Ausgang einer Liebesbeziehung zu Gehör brachten, dass dem Sieger die ganze Aufmerksamkeit zukommt, gilt wohl nirgendwo treffender als im Sport. Und so standen dann auch beim CVJM-Silvesterlauf am Ende wieder die Siegerinnen und Sieger im Rampenlicht, gaben Interviews, diktierten ihre Ziele für das neue Jahr 2023 in die Notizblöcke und nahmen dann bei der Siegerehrung ganz oben auf dem Treppchen die glänzenden Pokale entgegen.
Der beste Langstreckler der Region freute sich sogar über Platz 22
Doch die eigentliche Erfolgsgeschichte beim Talsperrenlauf am letzten Tag des alten Jahres, die schrieb fast unbeachtet ein anderer. Marco Giese aus Olpe, ein Läufer, der in Normalform die Konkurrenz im 10-Kilometer-Lauf in Grund und Boden gerannt hätte, lief fünfeinhalb Minuten hinter dem Sieger Frank Merrbach auf Platz 22 in den Zielkanal. Die Zeitmessung zeigte 39:46 Minuten, fast neun Minuten schlechter als seine persönliche Bestzeit über diese Distanz – und doch war er wohl der glücklichste Läufer des Tages. Dass der schlaksige Läufer im roten Trikot der SG Wenden mit der Startnummer 727 nämlich überhaupt an der Startlinie stand, grenzt schon an ein kleines Wunder. Nur mit ganz viel Glück hatte er im Sommer, zwei Wochen nach seinem 30. Geburtstag, einen lebensgefährlichen Rad-Crash im Training überlebt. Von Laufsport, geschweige denn Leistungssport, wagte der promovierte Wirtschaftswissenschaftler nicht mal zu träumen.
Folgenschwerer Rad-Crash mit über 50 km/h Aufprallgeschwindigkeit
Blick zurück: Es ist Sonntag, der 3. Juli 2022. Marco Giese ist mit ein paar Sportfreunden auf einer Trainingsfahrt mit dem Rennrad unterwegs. Nach einer Abfahrt prallt er in einer scharfen Rechtskurve am Ortsausgang von Tilkhausen in der Gemeinde Reichshof mit enormer Wucht mit einem Traktor zusammen. Die spätere Tachoauswertung zeigte eine Aufprallgeschwindigkeit von 50 km/h, hinzu kam noch die Geschwindigkeit der entgegenkommenden Landmaschine. Nur der sofortigen Hilfe vor Ort und dem schnellen Transport per Rettungshubschrauber ins Krankenhaus verdankt er sein Überleben.
Lungenquetschung, Aorta-Riss und hoher Blutverlust
Bei dem Aufprall hatte er sich fast tödliche Verletzungen zugezogen: Lungenquetschungen, Schulterbruch, mehrere Brüche der Hand und das Schlimmste, einen Riss der Aorta, der zu sehr viel Blutverlust geführt hatte. Es begann ein Hoffen und Bangen, ob er den Unfall überleben würde. „Ich habe ganz viel Glück gehabt, dass das alles nochmal gutgegangen ist“, erzählt er dankbar, „es hätte auch anders ausgehen können.“ Glück im Unglück hatte der Laufsportbegeisterte, dass seine Beine kaum Blessuren davongetragen hatten. „Bis auf einen Kreuzbandriss war da nicht so sehr viel kaputt.“
Höllischer Muskelkater nach langsamem Dauerlauf über 5 km
In den vergangenen Monaten kämpfte er sich zurück, erst ins Leben und dann, nach vielen Kilometern daheim auf der Radrolle, auch wieder zurück auf die Laufstrecke. „Ich erinnere mich noch genau an meinen ersten Trainingslauf über fünf Kilometer. Ich konnte nur ein Tempo von 5:42 Minuten pro Kilometer laufen und der Muskelkater am nächsten Tag fühlte sich fürchterlich an.“ Bei seinem Rekordrennen über 5.000 Meter beim international stark besetzten EA Permit Meeting-IFAM im belgischen Oordegem, einen Monat vor seinem schweren Unfall, war er mit seiner neuen persönlichen Bestzeit von 14:16,26 Minuten auf die Sekunde doppelt so schnell unterwegs. Zwei Wochen später lief er über die gleiche Distanz in einem Spurtrennen zum Titel des NRW-Meisters. Noch im Frühsommer war er in der Form seines Leben. „Zu dem Zeitpunkt war ich unheimlich gut drauf. Ganz realistisch, ich wäre in einem guten Rennen über 10.000 Meter unter 30 Minuten geblieben. Das hatte ich drauf.“
Marco Giese bekommt von vielen Glückwünsche zu seiner Rückkehr
Groß war die Freude bei vielen seiner Laufkollegen als sie den sympathischen, ruhigen, eher introvertierten Blondschopf, der nicht viel Aufhebens um seine Person macht, nun wieder an der Startlinie an der Obernau im kurzen Wettkampfdress begrüßen konnten. „Schön, dass es dir wieder gutgeht. Schön, dass du zurück bist“, klopften ihm viele auf die Schultern. Genau 40 Minuten wollte er dann laufen, „ich darf mich noch nicht so stark belasten“, erklärte er kurz vor dem Startschuss. Mit 39:46 Minuten wurde es eine Punktlandung. Von einem Comeback wollte Marco Giese jedoch noch nicht sprechen, dafür sei es noch zu früh. Was er sich für 2023 vorgenommen hat? „Mit Zielen bin ich erst Mal vorsichtig. Ich versuche nun, mich langsam zu steigern. Ich habe vor, alle Läufe im Ausdauer-Cup mitzumachen. Dann seh’n wir weiter.“ Der CVJM-Silvesterlauf am 31.12.2022 war für Marco Giese Zweierlei: ein überaus freudiger Abschluss eines folgenschweren Jahres und zugleich der Startschuss zu einem Neuanfang in 2023.
Bericht zum 43. Silvesterlauf – HIER