KIRCHEN. Hans-Jürgen Orthmann war einer der führenden Langstreckenläufer in den 70er und 80er Jahren. Der „Mann mit der Mütze“ feierte 22 Deutsche Meistertitel und wurde Vizeweltmeister im Crosslauf auf der Pferderennbahn von Paris-Longchamp. Den Olympia-Boykott von Moskau 1980 hat er nie verwunden. Heute, am 5. Februar 2024, wird der „Mann mit der Mütze“, Hans-Jürgen „Sehne“ Orthmann, erfolgreicher Langstreckenläufer, berüchtigter „Schwarzkittel“ und begeisterter Schachspieler, 70 Jahre alt.
Wie die „Sehne“ zur gelben Mütze kam
Es sind Traummaße: 190 – 50 – 120. Nicht für den Laufsteg in Paris, dafür aber für die Laufstrecken der Welt. Und so ist es auch nicht weiter verwunderlich, dass der schlaksige 1,90 Meter große Hans-Jürgen Orthmann mit Schuhgröße 50 und zu besten Zeiten federleichten 120 Pfund Körpergewicht von seinen Mitstreitern einen ganz besonderen Spitznamen verpasst bekam. Es war 1971 in einem Trainingslager in Frankreich, da hatte der Koblenzer Läufer Christian Collisy den überaus hageren Läufer aus Wehbach kurzerhand in „Sehne“ umgetauft. Und weil seine Oma ihren Hans-Jürgen im Fernsehen immer so schlecht erkennen konnte, lief der fortan nur noch mit einer gelben Schirmmütze von Erfolg zu Erfolg und kam so zu seinem zweiten Markenzeichen. Heute wird der „Mann mit der Mütze“, Hans-Jürgen „Sehne“ Orthmann, erfolgreicher Langstreckenläufer, berüchtigter „Schwarzkittel“ und begeisterter Schachspieler, 70 Jahre alt. Und weil ihm Menschenmassen und Lobeshymnen auf seine Person ein Gräuel sind, wird es auch wie schon all die Jahre zuvor „keinen großen Bahnhof“ geben. Ein kleines Kaffeekränzchen bei seinem langjährigen Manager Edgar Frisch, das war’s, mehr gibt’s nicht.
Geburtsort Niederschelderhütte oberhalb des Rosengartens
„Sehne“ Orthmann war in den 1970er und 1980er Jahren, ob auf der Bahn, der Straße, oder im Crosslauf einer der besten deutschen Langstreckenläufer. Seine sportliche Bilanz ist eindrucksvoll: Orthmann wurde 22 Mal Deutscher Meister, bestritt 41 Länderkämpfe und wurde von 1975 bis 1987 für alle Crosslauf-Weltmeisterschaften nominiert. Orthmann wurde am 5. Februar 1954 im Wasserpumpenhaus oberhalb des Schelder „Rosengarten“ in Niederschelderhütte geboren. Mit dem Sportplatz vor der Haustür stellte sich nur die Frage, ob er Fußballer oder Läufer werden sollte. Zunächst rannte er dem runden Leder hinterher, spielte im Alter von 10 bis 18 Jahren erst beim VfL Wehbach und später beim SV Betzdorf-Bruche. Als er 1967 als 13-Jähriger den 1000-Meter-Lauf zum Sportabzeichen ohne gezieltes Lauftraining in 3:20 Minuten schaffte, war klar, sein größtes Talent liegt im Langstreckenlauf.
Mit 18 Jahren Jugend-Weltrekord über 3.000 Meter
Bereits mit 16 Jahren lief Orthmann in Buschhütten Deutschen B-Jugend-Rekord über 2.000 Meter (5:47,4 Min.), mit 17 Jahren Deutschen B-Jugendrekord über 3000 m (8:26,6 Min.) und 1972 mit 18 Jahren in Brüssel über 3000 m einen neuen Jugend-Weltrekord (8:06,8 Min.). 1973 wurde er Junioren-Weltmeister über 3000 Meter, 1975 Militär-Cross-Weltmeister und 1980 Dritter bei der Hallen-EM über 3000 Meter. Seine Bestzeiten sind beachtlich und stehen über 1500 m bei 3:42,3 Minuten (Trier 1976), über 3000 m bei 7:48,09 Minuten (Köln 1976), über 5000 m bei 13:30,53 Minuten (Stockholm 1982), über 10 000 m bei 28:02,92 Minuten (Aachen 1985). Kurzzeitig war er mit seiner Zeit von 1:14:52 Stunden im 25 km-Straßenlauf (1977 in Paderborn) sogar Zweitbester in der Welt.
„Der Craig Virgine hat mich auf den letzten Metern ausgekontert.
Hans-Jürgen Orthmann, nach seinem 2. Platz bei der Cross-WM in Paris 1980
Ich hatte einen Moment nicht aufgepasst, da war er schon an mir vorbei.
Ich hatte den Sieg schon im Kopf und hab’ ihn dann noch verschenkt.“
Seinen größten sportlichen Erfolg feierte der „Mann mit der Mütze“ am 9. März 1980. Bei den Crosslauf-Weltmeisterschaften auf der Pferderennbahn Longchamp in Paris wurde er vor der spektakulären Kulisse von 20.000 Zuschauern Vizeweltmeister. Auf der Zielgeraden hatte er den lange Zeit führenden Briten Nick Rose überholt, wurde dann aber auf den letzten Metern noch überspurtet. „Der Craig Virgine hat mich auf den letzten Metern ausgekontert. Ich hatte einen Moment nicht aufgepasst, da war er schon an mir vorbei. Ich hatte den Sieg schon im Kopf und hab’ ihn dann noch verschenkt,“ erinnert sich „Sehne“ Orthmann an seine Sternstunde.
Große Enttäuschung über den Olympiaboykott
Doch das Jahr 1980 endete für Orthmann mit großem Frust und Enttäuschung. Deutschland hatte mit anderen Nationen die Olympischen Spiele in Moskau aufgrund des Afghanistan-Konfliktes boykottiert. Bereits für diese Olympischen Sommerspiele über 10.000 Meter nominiert traf „Sehne“ der Olympia-Boykott wie ein harter Schicksalsschlag. „Ich war bereits eingekleidet, dann kam die Ausladung. Die haben mich um eine Olympiamedaille gebracht. Ich hätte Silber geholt,“ ist er sich bis heute sicher.
Dem Lockruf des „großen Geldes“ widerstanden
Mit dem Deutschen Leichtathletik-Verband ist er nie richtig zurecht gekommen. Hans-Jürgen Orthmann, der in Siegen Biologie und Pädagogik studierte, sich als „Grüner“ für den Umweltschutz einsetzte, galt immer als Enfant Terrible der Laufszene, als Einzelgänger im grünen Parka, als spartanisch lebender Querkopf mit eigenem Trainingskonzept, der niemandem nach dem Mund redete und seine Prinzipien für nichts und niemanden über Bord warf. Dem Lockruf des Geldes von Sponsoren und Großvereinen wie Quelle Fürth oder Bayer Leverkusen hat er auch widerstanden. Unterstützt wurde er lediglich von der Hachenburger Brauerei, vom Sportartikelhersteller Eugen Brütting und später von Adidas. Auch seiner sportlichen Heimat ist er immer treu geblieben, schnürte die Laufschuhe nur für den VfL Wehbach, den von ihm selbst gegründeten Schachverein „Zugzwang“ Wehbach und dann für „Laufzwang“ Wippetal. Ein Vereinswechsel weg vom VfL Wehbach hin zu einem Großverein? Für „Sehne“ ein No-Go.
Verletzung kurz vor Boston-Marathon führte zur Absage
Von 800 Meter bis 25 Kilometer, ob Halle, Bahn, Straßenlauf, oder Cross-Country – „Sehne“ Orthmann hatte ein breites Leistungsspektrum. Nur mit dem Marathonlauf ist er nie so richtig glücklich geworden. 1988 hatte er eine Einladung zum Bostonmarathon bekommen, dort wollte er den Deutschen Rekord von Christoph Herle (2:09:23 Std.) knacken und so stellte er sein Training um, rannte bis zu 240 Kilometer pro Woche. „Bei einem Testlauf über 20 Kilometer habe ich nur 60 Minuten gebraucht und war fast noch locker dabei“, erinnert sich Orthmann. Kurz vor dem Wettkampf in Boston verletzte er sich im Training und vorbei war’s mit dem Marathon. Verletzungspause statt Deutscher Rekord. Und so steht seine Bestzeit auch nur vom „Trainingsmarathon“ bei der DM in Frankfurt am 30. Oktober 1988 mit für seine Leistungsstärke indiskutablen 2:17:59 Stunden.
357.000 Laufkilometer – Strecke von der Erde bis zum Mond
„Ich schätze, ich habe in meinem Leben die Strecke bis zum Mond, 357.000 Kilometer zurückgelegt“, hatte er mal in einem Interview erzählt. Und natürlich konnte er das auch anhand seiner Trainingstagebücher, die er akribisch geführt hatte, mit Fakten belegen. Noch heute hält die „Sehne“ etliche Streckenrekorde – auch in der Region. Nach Tausenden von Laufkilometern und nachdem er im Frühjahr 1988 beim Training im Nistertal von einem Autofahrer angefahren wurde, wurden Knie- und Rückenschmerzen zum ständigen Begleiter. Gefragt, wann er seine Knieschmerzen zum ersten Mal gespürt habe, antwortete „Sehne“: „Bei den Deutschen Crossmeisterschaften 1989, da habe ich zum ersten Mal diesen Messerstich im Knie gespürt.“
Laufen mit Schmerzen – im Sommer 2000 war Schluss
Fortan musste er sein Kilometerpensum deutlich reduzieren, Trainingseinheiten vorzugsweise im Wippetal, waren nur noch unter Schmerzen möglich. Volksläufe und Straßenläufe in der Region, natürlich siegreich, viel mehr war nicht drin. 1999 versuchte er es nochmal mit einem Comeback bei den Senioren-Weltmeisterschaften in Gateshead, holte in der M45 über 5000 Meter in 15:36 Minuten „Bronze“ und wurde Vierter über 10.000 Meter in 33:57 Minuten. Eine Enttäuschung, war er im selben Jahr doch schon drei Minuten schneller gelaufen und weltweit immer noch einer der Besten in seiner Altersklasse. Schmerzen, Pause, wieder Joggen wechselten sich ab. Im Sommer 2000 versuchte er sich bei einem Sportfest in Kreuztal noch einmal über 5.000 Meter. Er gewann, aber in einer für ihn blamablen Zeit. Es sollte sein letzter „echter“ Wettkampf gewesen sein.
Meniskus-OP in Hellersen – doch das Comeback blieb aus
Lange Jahre hatte sich Orthmann vor einem operativen Eingriff gescheut, er fürchtete Nebenwirkungen und eine weitere Verschlechterung. Im Januar 2002 legte er sich dann aber doch noch auf den OP-Tisch beim damaligen „Mister Meniskus“, Dr. Axel Thiel, Chefarzt der Chirurgie und Orthopädie in der Sportklinik in Hellersen, der Kapazität in Deutschland für kaputte Sportlerknochen. Thiels Diagnose überraschte: Der Schaden komme wahrscheinlich nicht vom Laufen. Die defekten Menisken könnten eher die Spätfolgen vom Fußballspielen im Schüler- und Jugendalter gewesen sein. Das erhoffte Comeback in der M50 kam nach der OP dann doch nicht mehr zustande. Der Langstreckenläufer Orthmann wurde mehr und mehr zu einem – sehr schnellen – Wanderer über lange Distanzen.
Schiedsrichter Orthmann zückte sechs Mal „Rot“
Nach seiner Laufkarriere kehrte er dann doch noch als Schiedsrichter zum Fußball zurück. Unvergessen bleibt das B-Kreisliga-Spiel 1992 zwischen dem TSV Freier Grund und der DJK SF Eiserfeld. Bis zur 60. Minute hatte er sechs DJK-Spieler wegen Schiedsrichterbeleidigung vom Platz geschickt. Daraufhin wurde das Spiel abgebrochen. Seine politische Ausrichtung brachte ihm die Schlagzeile „Grüner Orthmann sah Rot“ ein. Bei der folgenden Spruchkammerverhandlung konnte Orthmann, der immer ein großes Gerechtigkeitsempfinden hatte und der das Regelwerk bis ins Detail kannte, kein Fehlverhalten angelastet werden.
Begeisterter Schachspieler – aber dem Laufsport treu
Der in Kirchen lebende ehemalige Ausnahmesportler, ist seit Jahren ein begeisterter Schachspieler, Mitglied im Schachverein Betzdorf-Kirchen und 1. Vorsitzender des Schachbezirks Siegerland. In Schulen bringt er gelegentlich auch Schülern die Kniffe des Brettspiels bei. Doch dem Laufsport ist er bis heute treu geblieben. Beim TuS Deuz gibt „Sehne“ seine Erfahrungen weiter und bei fast allen Volksläufen in der Region ist er interessierter Zuschauer an der Strecke. Dass der jetzt Siebzigjährige mit seinem Spitznamen „Sehne“ viele mehr anzufangen weiß, als mit seinem Vornamen Hans-Jürgen, das belegt auch seine E-Mail-Adresse. Die lautet, wie könnte es auch anders sein, sehne@online.de